Ein Startup mit 110-jähriger Geschichte – über Bilder und Geschichten im Wein-Marketing

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„Welche Bilder kommen Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Ihr Weingut denken?“ Diese Frage stellen wir am Anfang eines ersten Sondierungsgespräches, wenn es um die Neupositionierung eines Betriebes geht.

Dr. Christine Dinse

Dr. Christine Dinse foto:Gut Hermannsberg

Die Antwort soll spontan kommen, ohne lange Überlegung. Da kann es dann schon mal sein, daß wir im Paradies landen. Konsequent geht es dann im nächsten Schritt an die Erforschung dieses Paradieses.

Jens Reidel und seine Lebensgefährtin Christine Dinse müssen sich wohl eine ähnliche Frage gestellt haben, als sie 2009 die ehemalige Königlich Preußische Staatsdomäne Gut Hermannsberg übernahmen.

Es gab mehrere Alternativen, um die Einzigartigkeit dieses Betriebes herauszustellen. Ein creativer oder künstlerischer Neuanfang wäre denkbar gewesen mit Kunst und Kultur, einem modernen Auftritt, neuen Etiketten und einer neuen Werbung – der bewusste Bruch mit der Tradition. Eine andere Möglichkeit hätte die Person von Jens Reidel geboten – ein erfolgreicher Unternehmer engagiert sich in einem Weingut – so in etwa wie Günther Jauch, den wir letztes Jahr auf der Prowein erleben durften. Reidel und Dinse haben sich für die dritte Variante entscheiden: die 110 jährige Geschichte der Staatsdomäne, die wie kaum eine andere auch für 11 Dekaden Weinbaugeschichte in Deutschland mit all ihren Höhen und Tiefen steht.

Christine Dinse erzählt, wie es zu dieser Entscheidung kam: beim Durchstöbern alter Urkunden, Kontorbücher und anderer Hinterlassenschaften kamen fünf große gerahmte Fotos zum Vorschein. Sie zeigten stattliche Herren, Namen oder Jahreszahlen waren nicht vermerkt.

Vorher waren schon andere Zeugnisse mit bekannten Persönlichkeiten, wie Hindenburg oder „Papa Heuss“ aufgetaucht. Wie sich später herausstellte, waren fast alle bedeutenden Personen der preußisch-deutschen und auch der Nachkriegsgeschichte ein- oder mehrmals auf Gut Hermannsberg. So wollte man auch die fünf Fotos zuordnen – dass Jagdfieber hatte Christine Dinse gepackt.

Aus den Nachforschungen wurde eine mehrjährige Recherche, die in einer systematischen Aufarbeitung der Geschichte der Domäne mündete. Dinse durchforstete Archive in ganz Deutschland –   nicht nur nach Urkunden sondern auch Fotos und Kartenmaterial. Sie wollte den Ereignissen ein Gesicht geben – denn Geschichte wird ihrer Überzeugung nach von Menschen gemacht.

Um die letzten achtzig /neunzig Jahre sichtbar werden zu lassen, gab es einen Aufruf an die Bevölkerung in den Orten an der Nahe. Es wurden Zeitzeugen gesucht, die über die jüngste Geschichte der Domäne Auskunft geben konnten.

Ein Teil des Materials wurde jetzt in einem Buch zusammengefasst, der „Geschichte der königlich-preußischen Rieslingdomäne Gut Hermannsberg“. Es dokumentiert die Anfänge des preußischen Vorzeige- und Forschungsbetriebs, zeigt, wie in der Zeit zwischen 1933 bis 1945 der Wein Teil der Blut- und Boden-Ideologie des Nationalsozialismus wurde und dokumentiert den schwierigen Wiederanfang nach dem zweiten Weltkrieg.

Gut Hermannsberg war aufgrund seiner besonderen Stellung als Staatsbetrieb in ganz besonderer Weise mit der Politik und auch der Weinbaupolitik verbunden. Die Chronik beschreibt diese Verflechtung und dokumentiert somit auch 110 Jahre Weingeschichte. Das macht sie zu einem Buch für die alle Wein-Interessierten und zu einem einzigartigen historischen Panorama. Dabei ist sie nicht trocken und distanziert, wie so manche Festschrift in unserer Branche, die nur zum Verstauben in Bücherregalen produziert zu sein scheint.

Nicht verschwiegen wird in der Chronik auch der allmähliche Niedergang eines einstmals über die Grenzen Deutschlands bekannten Betriebes. Waren die 7oer und 80er Jahre noch von Prominenz geprägt: die Queen, Kohl und Mitterand, ging es in den 90ern bergab. Der Staat als Winzer hatte ausgedient. Es folgt die Privatisierung unter Kurt Beck.  Die ersten nicht-staatlichen Besitzer sind einigermaßen erfolgreich, das Weingut gehört zum VDP – schafft es aber nur mit einzelnen Weinen ab und an in die Spitze.

Nachdem Reidel / Dinse 2009 eingestiegen sind haben sie die Flächen reduziert, stellen sukzessive auf 100% Riesling um und fahren mit einem neuen Team eine konsequente Qualitätspolitik. Dazu gehört auch, dass man sich von Handelspartnern in der Fläche getrennt hat, auf den Fachhandel und den Export setzt.

Aus USA, Japan und China kommt die Bestätigung, dass mit der Aufarbeitung der Geschichte marketingtechnisch der richtige Ansatz gewählt wurde. „Die Leute dort erwarten von einem Weingut in der alten Welt einen historischen Hintergrund und eine Geschichte – das gilt für ein traditionelles deutsches Riesling-Weingut genauso wie für ein Château aus Bordeaux. Wir haben das bei zahlreichen Messen und Verkostungen in Übersee erfahren. Die Geschichte und die Geschichten machen es wertvoll“ sagt Jens Reidel.

Spannend zu sehen, was aus dem „Startup mit 110-jähriger Geschichte“ – so die Überschrift des letzten Kapitels – wird. Reidel/ Dinse stellen ihre Chronik und natürlich ihre Weine bei der Prowein in Halle 3  Stand G 140 vor.

Geschichte der königlich-preußischen Rieslingdomäne Gut Hermannsberg
Hrsg. Dr Christine Dinse / Jens Reidel
266 Seiten, mit vielen historischen Fotos, Karten und Faksimiles, Zeittafel und umfangreichem Literaturverzeichnis   69,00 Euro

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